III. Projekte, die Chancen eröffnen
In Baden-Württemberg werden bereits seit vielen Jahren Präventionsprogramme in allen Justizbereichen, also im Ermittlungs- und Strafverfahren ebenso wie im Strafvollzug betrieben und fortentwickelt. Mit ihnen sollen weitere Straftaten verhindert und die Wiedereingliederung der straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden durch gezielte Hilfestellungen sämtlicher in einem Jugendstrafverfahren beteiligter Institutionen erleichtert werden.
Einen vernetzten Ansatz verfolgen die insgesamt neun „Häuser des Jugendrechts“ im Land. Dort werden die Fälle in ressortübergreifenden Fallkonferenzen besprochen, die generelle Zusammenarbeit wird in Hauskonferenzen organisiert. In Stuttgart-Bad Cannstatt arbeiten Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe sowie Jugendsachbearbeiter der Polizei und der Staatsanwaltschaft bereits seit 1999 unter einem Dach zusammen. In der Folge wurden in Pforzheim (2012), Mannheim (2015), Heilbronn (2017), Ulm (2020), Offenburg (2020), Karlsruhe (2021), Waldshut-Tiengen (2022) und Villingen-Schwenningen (2022) „Häuser des Jugendrechts“ in Betrieb genommen. Das positive Ergebnis der eng verknüpften Zusammenarbeit ist neben der Verfahrensbeschleunigung die Möglichkeit, durch eine intensive Analyse der Situation des jeweiligen Jugendlichen individuell auf das delinquente Verhalten reagieren zu können.
Die Erfahrungen über die behördenübergreifende Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität aus der Tätigkeit im „Haus des Jugendrechts“ waren auch Modell für die sogenannte Diversions- und Zusammenarbeitsrichtlinien. Elemente, die das „Haus des Jugendrechts“ kennzeichnen, wurden bewusst aufgegriffen und als Maßstab bei der Bearbeitung von Verfahren gegen Jugendliche in Baden-Württemberg landesweit umgesetzt. Eine wichtige Rolle spielen hier das Wohnortprinzip bei der polizeilichen Sachbearbeitung, die Regionalisierung der Jugenddezernate der Staatsanwaltschaften und die Parallelbefassung der Jugendgerichtshilfe mit dem Ziel, erzieherisch gebotene Maßnahmen rechtzeitig in die Wege leiten zu können.
Eine Ausweitung der „Häuser des Jugendrechts“ in Baden-Württemberg ist vorgesehen. An zahlreichen Standorten streben die Akteure vor Ort die Errichtung eines „Hauses des Jugendrechts“ an. In Konstanz, Stuttgart-Mitte, Heidelberg, Kehl und Lahr ist zeitnah mit ihrer Inbetriebnahme zu rechnen.
Das Heinrich-Wetzlar-Haus in Stutensee bei Karlsruhe ist eine Einrichtung zur einstweiligen geschlossenen Unterbringung von Jugendlichen zur Vermeidung der Untersuchungshaft. Träger des Heinrich-Wetzlar-Hauses ist eine gemeinnützige GmbH, deren Gesellschafter der Landkreis Karlsruhe ist. Baden-Württemberg stehen 12 Unterbringungsplätze zur Verfügung.
Zielgruppe sind männliche Jugendliche, gegen die ein Haftbefehl erlassen wird und gegen die deshalb Untersuchungshaft zu vollziehen wäre. Die mit dem Vollzug der Untersuchungshaft verbundenen Gefahren durch subkulturelle Einflüsse in den Jugendhaftanstalten sollen durch die Unterbringung im Heinrich-Wetzlar-Haus vermieden werden.
Nach § 7 Abs.1 des baden-württembergischen Justizvollzugsgesetzbuchs IV können junge Gefangene bei Eignung in einer Einrichtung des Jugendstrafvollzuges in freien Formen untergebracht werden. Hierzu gestattet die Anstaltsleitung dem jungen Gefangenen, die Jugendstrafe in einer dazu zugelassenen Einrichtung der Jugendhilfe zu verbüßen. Folgende Einrichtungen sind zugelassen:
„Projekt Chance“ in Creglingen-Frauental
Träger: Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands gemeinnütziger e. V. (CJD); bis zu 15 Plätze für junge Gefangene.
„Seehaus Leonberg“
Träger: Seehaus e. V.; bis zu 15 Plätze für junge Gefangene.
Jugendstrafvollzug in freien Formen dient dem Schutz junger Gefangener vor subkulturellen Einflüssen, der Aufarbeitung von Entwicklungsstörungen, dem Training sozialer Kompetenzen, der Übernahme von Verantwortung, der Berufsorientierung und der Integration in die Gesellschaft. Bei der Konzeption ist man davon ausgegangen, dass die Zielgruppe Mehrfach- und Intensivtäter sind, die erhebliche Entwicklungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Bei ihnen muss frühzeitig und intensiv kriminalpräventiv interveniert werden.
Der Jugendstrafvollzug in freien Formen nach baden-württembergischer Ausrichtung unterscheidet sich deutlich von sogenannten „Boot-Camps“, weil die Menschenwürde und die Grund- und Menschenrechte der jungen Gefangenen Grundlage der Erziehung sind. Gleichwohl ist die pädagogische Ausrichtung persönlichkeitsfordernd und keine „Kuschelpädagogik“. Ein strukturierter Tagesablauf mit sozialem Training, Arbeit, Sport, Auseinandersetzung mit der Tat, nach Möglichkeit Täter-Opfer-Ausgleich, eine Konfrontation mit Fehlverhalten durch die Gruppe und andere verhaltensändernde Erziehungsmaßnahmen machen den Aufenthalt für die jungen Gefangenen gewollt anstrengend. Wer das Jahr durchhält, bekommt eine „zweite Chance“, zum Beispiel in Form eines Arbeitsplatzes. Wer aufgibt, muss zurück in den Strafvollzug.
Der Tagessatz liegt bei 264,79 Euro und wird seit 2008 aus dem Staatshaushalt finanziert. Damit entspricht er den durchschnittlichen Kosten stationärer Einrichtungen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche.
Im „Nachsorgeprojekt Chance“ wird auch jungen Strafgefangenen eine besonders intensive Betreuung im Übergang vom Strafvollzug in die Freiheit angeboten. Das Projekt wurde im Juli 2005 gestartet. Angesprochen sind Gefangene mit Endstrafe, vorzeitig Entlassene ohne Bewährungshelfer, Verbüßer von Ersatzfreiheitsstrafe und Personen, die nach Freispruch aus Untersuchungshaft oder im Rahmen der Wiederaufnahme aus Strafhaft entlassen werden. Mit dem Projekt soll vermieden werden, dass sie in das so genannte Entlassungsloch fallen. Der Rückfallgefahr soll durch eine Stabilisierung der Lebensumstände in dieser Situation vorgebeugt werden.
Das Projekt wird durch den Landeshaushalt finanziert. Die Durchführung obliegt dem Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von drei Dachverbänden, deren Mitgliedsvereine in der Straffälligenhilfe engagiert sind. Mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern ihrer Mitgliedsvereine stellen sie die Nachsorgekräfte. Das Nachsorgeprojekt Chance kennzeichnet insbesondere sein flächendeckendes Hilfe- und Unterstützungsnetzwerk. Es ist damit bundesweit einzigartig. Die Konzeption hat sich über die letzten Jahre außerordentlich bewährt. Baden-Württemberg kann mit dem Nachsorgeprojekt eine gelungene Möglichkeit aufzeigen, wie ein Hilfesystem in einem Flächenland funktionieren kann.